2 Nov 2022

People of Bormio: Ariana Boras

Lesen 7min
Foto von Ariana Boras
Territorien
100%

Drei Olympiaden, zwei Flaggen: Als Mädchen dem Krieg entkommen, baute sie sich in Bormio dank zweier italienischer Skirennmeister ein neues Leben auf.

 

Seneca sagte, um glücklich zu sein, muss man seine Seele verändern, nicht den Himmel, unter dem man lebt. Es gibt jedoch Fälle, in denen man nur aufgrund der Gegend, in der man sich befindet, zur Ruhe kommen kann. Ariana Boras hat an drei Olympischen Spielen teilgenommen, einmal unter der Flagge Jugoslawiens und zweimal unter der von Bosnien und Herzegowina; sie war erst 16 Jahre alt, als es ihr dank des Sports gelang, ein im Krieg befindliches Land zu verlassen. Heute ist Bormio der Ort, den sie „meine Heimat“ nennt, die Stelvio-Piste ist „ihre Piste“ und die Winterspiele Milano Cortina 2026 werden in ihrem Dorf stattfinden. Bei einem Spaziergang durch das mittelalterliche Zentrum von Bormio, zwischen Fresken und Handwerksbetrieben, blickt sie in den Himmel und sagt: „Der Himmel über Bormio ist der schönste der Welt.“
 

 

Foto von Ariana Boras

 

Wie kam es zu Ihrer Leidenschaft für das Skifahren?

Mein Vater war Skilehrer in Bjelašnica und wollte, dass wir alle Skifahren lernen. Aber der Moment, der alles veränderte, war die Olympiade 1984 in Sarajewo, wo ich mir das Abfahrtsrennen der Männer ansah, in dem Moment war mein Traum geboren. Im Alter von 12 Jahren wurde ich das erste Mal in die Nationalmannschaft berufen. Mit 16 habe ich mich für Albertville 1992 qualifiziert. Wir fuhren mit dem Bus von Sarajevo nach Frankreich und kamen nach einer endlosen Reise an: Wir schliefen in den Häusern von Einheimischen, die sich bereit erklärt hatten, uns aufzunehmen. Es war schön, weil man den Geist des Ortes wirklich einatmen konnte.
 

 

Wie verlief diese erste olympische Erfahrung?

Leider endete meine erste olympische Erfahrung aufgrund einer Verletzung während meines ersten Wettkampfs, der Kombination, vorzeitig. Ich war verzweifelt, sie brachten mich ins Krankenhaus, und wer lag in dem Bett neben mir?! Deborah Compagnoni! Sie hatte Gold im Super-G gewonnen und erlitt am nächsten Tag eine ihrer schwersten Kniebandverletzungen. Vielleicht war das das erste Mal, dass ich von Bormio hörte, denn sie wurde hier geboren.

 

Albertville 1992 - Lillehammer 1994 in zwei Jahren hat sich die Welt und Ihre Welt verändert, wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Als ich aus dem Krankenhaus kam, etwa einen Monat nach dem Ende von Albertville 1992, sagte man mir, dass ich wegen des Krieges nicht nach Hause gehen könne. Ich war ein minderjähriges Mädchen im Ausland, die Flughäfen in Sarajevo waren geschlossen, ich brauchte ein spezielles Visum für die Rückkehr: meine Familie musste mich abholen. Es waren sehr schwierige Zeiten. Ich erinnere mich lebhaft daran, dass eines Abends das Haustelefon klingelte und mein Vater abnahm. Sie erzählten ihm, dass Bosnien nun, da es ein Staat geworden war, Sportler für eine Mannschaft für die Olympischen Spiele in Lillehammer suchte. Mein Vater sagte zu mir: „Wir schicken Dich nicht weg. Es ist eine Chance, es ist deine einzige Chance, um dich zu retten.“ Ich konnte nicht schlafen, packte meinen Rucksack und fuhr am nächsten Tag zum Training nach Slowenien.

 

Wie haben Sie als Sportler den Krieg wahrgenommen?

Wir waren eine Gruppe von Jugendlichen, die zusammen aufgewachsen sind und zusammen trainiert haben, aber plötzlich traten wir unter verschiedenen Flaggen an. Bei den Olympischen Spielen hat man jedoch wirklich das Gefühl, dass die Barrieren fallen und dass wir alle durch den Sport vereint sind.

 

Kann Sport die Menschen vereinen?

Ich bin überzeugt, dass der Sport die Welt verändern kann, weil er die Menschen verändert. Er lässt dich wachsen, er lässt dich Neues lernen, er formt deinen Charakter und die Art, wie du die Dinge siehst. Er hat mich verantwortungsbewusst gemacht und mir beigebracht, wie man kämpft. Der Krieg trennt Menschen, er hat mir meine Kindheit und meine Freunde genommen und mich gezwungen, meine Heimat zu verlassen. Dank des Skifahrens hatte ich die Chance auf ein zweites Leben, ich habe neue Leute kennen gelernt, bin gereist und habe Erfahrungen gemacht, die mich heute hierher gebracht haben. Für mich lief es so, aber ich bin sicher, dass es vielen genauso geht.

 

Panoramafoto von Bormio

 

Warum haben Sie sich entschieden, nach Bormio zu ziehen?

Ich habe mich aufgrund von Alberto Tomba und Deborah Compagnoni für Bormio entschieden! Ich hatte Deborah 1992 kennen gelernt und mit Alberto trainierte ich vor Lillehammer 1994 auf derselben Strecke. Am Ende dieser Olympiade konnte ich nicht nach Sarajevo zurückkehren, und die beiden brachten mich mit ihren Sponsoren in Kontakt. Der Apt Valtellina stellte mir eine Wohnung zur Verfügung und gab mir die Möglichkeit, weiter Ski zu fahren.

 

Erinnern Sie sich an den Tag, an dem Sie hier angekommen sind?

Ich werde den Himmel, der mich an diesem Tag begrüßt hat, und die Farben der Berge nie vergessen. Wir kamen nach einer sehr langen Reise zusammen mit vier anderen und meinem Trainer in einem Van hier an. Ich weiß nicht, warum, aber das erste, was wir taten, war, auf einem kleinen Platz Fußball zu spielen, vielleicht war das die erste wirklich unbeschwerte Geste. Wir stehen immer noch in Kontakt mit den damaligen Betreibern des Apt, und wenn sie mich treffen, sagen sie mir immer: „Wir erinnern uns an den Tag, an dem Du hier angekommen bist! Du warst noch ein Kind!“ Ich habe mich auf den ersten Blick in Bormio verliebt.

 

Wie haben Dich die Menschen vor Ort aufgenommen?

Die Kids vom Skiclub Bormio haben mich sofort aufgenommen, ich kam aus Sarajevo und konnte kein Italienisch, der Sport hat uns zusammengebracht und mir bei der Integration geholfen. Der Krieg hat mein Leben geprägt, es ist oft anders gelaufen, als ich es mir vorgestellt habe, aber das Schicksal hat mich hierher gebracht, und wenn ich zurückblicke, bin ich zufrieden.

 

Was gefällt Ihnen am meisten an Bormio?

Als ich 2001 meine Sportlerkarriere beendete, begann ich, die Gegend wirklich zu leben. Ich liebe es, auf dem Forni-Gletscher Ski zu fahren, in den Thermen zu entspannen, die Natur im Val Viola zu bewundern und wilde Tiere im Val Zebrù zu beobachten. Hier in Bormio habe ich auch das Skitourengehen entdeckt. Ich war noch minderjährig, als ich hier ankam, heute bin ich 45 Jahre alt: Ich habe länger hier gelebt als in Sarajewo. Für mich ist das jetzt mein Zuhause. Ich habe hier meinen Partner kennen gelernt und arbeite seit mehr als 10 Jahren in einem Bekleidungsgeschäft. Ich fahre oft zu meinen Eltern zurück, aber wenn ich dort bin, vermisse ich Bormio! Deshalb versuche ich, sie zu überzeugen, hierher zu kommen.
 

 

Im Jahr 2026 werden Sie die Olympischen Winterspiele in Ihrer Wahlheimat erneut erleben, was bedeutet das für Sie?

Die Winterspiele in meiner Wahlheimat fühlen sich bereits wie meine an. Sie werden ein bisschen wie meine vierten Olympischen Winterspiele sein. Ich stelle mir Milano Cortina 2026 grün, neu, modern, ohne Kriege und ohne Covid vor. Ich hatte die Ehre, die Damenabfahrt beim Weltcupfinale 1996 auf dem Stilfser Joch anzuführen, aber die Herrenabfahrt bei den Olympischen Winterspielen 2026 wird ein unglaubliches Schauspiel sein!

 

Wohin würden Sie im Jahr 2026 einen jungen bosnischen Athleten mitnehmen, der zum ersten Mal nach Bormio kommt?

Zum Pizzoccheri-Essen auf der Piazza!

Worldwide Olympic and Paralympic Partners
Olympic and Paralympic Premium Partners
Olympic and Paralympic Partners
Olympic and Paralympic Sponsors
Official Supporters